Vom Wissen und Radikalen Nicht-Wissen in der Beratung
Was machen wir, wenn wir beraten oder coachen? Vielleicht erschließt sich daraus die Frage, wie wir beraten, ohne dass wir, radikalhumanistisch betrachtet, diese Frage letztlich beantworten können [1].
Beratungsarbeit erfordert handwerklich qualitativ hohe sorgfältige, feinteilige und kleinschrittige Arbeit. Diese ermöglicht paradox einen veränderten Blick auf die Organisation als Großes und Ganzes und auf die Situation des Mandanten. Wie bin ich ausgestattet für dieses Handwerk und was sind meine beschreibbaren Werkzeuge für dieses Beratungshandwerk, wenn ich berate? Können und Wissen setze ich ein: Gründliche, unter anderem gestalttherapeutische, Ausbildungen, (Selbst)Reflexivität oder forschendes Nachdenken und Beobachten unseres Tuns, Weiterbildung und theoretisch wissenschaftliche Beschäftigung mit relevanten Themen mit denen ich mich schreibend weiter entwickele (siehe Veröffentlichungen). Diesem Wissen und Können ebenbürtig sind Nicht-Wissen und Nicht-Können als Dimensionen beraterischen Handelns (vgl. Matt-Windel 2014a und b)). Sie verweisen auf verborgene Wirklichkeiten, Nicht-Sichtbares, Nicht-Planbares und Nicht-Machbares als wirkungsvolle Dimensionen im Beratungsprozess.
Ich beginne mit Wissen und Können und richte als erstes auf das Phänomen Kontakt die Aufmerksamkeit. Was Kontakt ist, ist dabei gar nicht so einfach zu beantworten. Vorweg sagen wir [3], Kontakt bezeichne eine Beziehungsqualität. Kontakt geschehe an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt, so eine gestalttherapeutische Idee [4]. Für den Dialogphilosophen Martin Buber ist die Seele Kontaktfläche zur Welt. Buber setzt gegen die uns gängige griechische Dreiteilung von Körper, Seele und Geist. Seelische Phänomene umfassen in seinem Verständnis Denken, Wollen und Fühlen [5] . Gehen wir von dieser Vorstellung über Kontakt aus, wird die Bearbeitung eines Problemfeldes sachlicher, weniger irrational. Einige mehr der komplexen und kontingenten, also möglichen aber nicht notwendigen, nie ganz zu erfassenden Optionen einer Situation, einer Sachlage können so ins Bewusstsein gelangen [6]. Sie stehen dann, in dieser Auswahl, rationaler, vernünftiger Beobachtung und sachlicher Entscheidung zur Verfügung. Kontakt könnte insofern etwas mit Bewusstsein zu tun haben, in dem mögliche Phänomene eines Erlebens integriert werden. Das können Gedanken, unkritisch übernommene Wahrheiten anderer, Projektionen oder selbstgemachte Konzepte über die persönliche Weltsicht sein, ebenso wie Körperempfindungen und Gefühle, als Zugang zur Frage, worum es geht. In der beraterischen Arbeit wäre Raum, diesen Phänomenen auf die Spur zu kommen, sie zu erforschen. Das erfordert Achtsamkeit und Gewahrsein, Wahrnehmungsqualitäten, denen wir in Beratung und Coaching Aufmerksamkeit geben. Veränderung geschieht dann paradox dadurch, dass das, was ist, gewürdigt wird. Das schließt unangenehme Phänomene ein. Bewertungen wie gut/schlecht, richtig/falsch interessieren immer weniger. Die Idee von Mehr- und Vieldeutigkeit eröffnet einen Möglichkeitsraum, im Erforschen eines Phänomens, eines Erlebens, eines Konflikts etc. einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Steht im Erforschen das Selbst im Fokus, ist die Dimension Kontakt [7] immer mitgegeben. Kontakt mit sich selbst, mit der Beraterin im Setting des Einzelcoachings oder auch Kontakt mit der Gruppe, im Team. Beratung in Organisationen vollzieht sich im Prozess.
Im nächsten Schritt komme ich zum radikalen Nicht-Wissen. Die Zuschreibung radikal macht hier den wesentlichen Unterschied. Radikal meint den Unterschied von gewusstem Nicht-Wissen, wenn wir davon ausgehen, dass wir einst wissen werden und nicht gewusstem Nicht-Wissen. Radikal, also von den Wurzeln her, vom Grund her Veränderung gestaltend, so könnte man das Beratungsmodell beschreiben, um das es hier geht. Nicht gewusstes Nicht-Wissen heißt, wir wissen nicht. Die Beraterin weiß nicht, der Mandant weiß nicht. Sie wissen nicht, wie der Prozess sich vollzieht, welche Erkenntnisse gewonnen, welche Fragen auftauchen, welche Gewissheiten verworfen werden, welche Themen prägnant werden und was die nächsten Schritte sein werden. Eins folgt dem anderen. Manchmal kann so der Beratungsprozess einer tastenden Suchbewegung gleichen. Wenn sich Beraterinnen in diesem Sinne in ein reflektierendes Nicht-Wissen, in Ungewissheit begeben, ermöglichen sie einen Raum für grundlegend andere Sichtweisen auf eine Situation, eine Fragestellung, ein Problem. Oder genauer: die Frage, worum es geht, kann vielleicht erst präzise werden in dieser Öffnung. Dazu braucht es Mut und ein wirkliches Interesse, etwas ändern zu wollen. Oft beginnt die Arbeit mit der Frage nach der Frage, in einem Klärungsprozess sorgfältig hinzuschauen, worum es eigentlich geht und dann sind die Beteiligten schon mittendrin.
Ich gehe davon aus, dass letztlich nur die Mandantin/der Mandant selbst, ein Team selbst wissen, wie der jeweils nächste Schritt in einer Sache, für ein Problem aussehen könnte und dass sie diesen Schritt in Verantwortung selbst gehen. Das bedeutet, dass ich in der Rolle der Beraterin / des Coach Zurückhaltung übe, während ich gleichzeitig in meiner Aufmerksamkeit engagiert bin. Manche bezeichnen diesen Modus als Präsenz.
[1] Dieser Text ist inspiriert vom Gespräch und der Zusammenarbeit mit Beate Willauer, Willauer Partner Institut für Führungskultur[3] Beate Willauer hat ein mehr dimensionales Kulturmodell für Organisationsberatung und Coaching entwickelt. Die fünf Dimensionen Selbst Kontakt Wirksamkeit Kontext Sozialistion ermöglichen einen komplexitätssteigernden wie reduzierenden Zugang zu Fragen und Herausforderungen im Coaching wie in der Organisationsberatung (vgl. http://media.wix.com/ugd/2e1a5b_160ca0246d864594b08dc12aad721b16.pdf
[4] Der Gestalt-Ansatz wurde von Lore und Fritz Perls, psychoanalytischer Herkunft, sowie dem Philosophen und Anarchisten Paul Goodman in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts begründet und entwickelt. Psychoanalytische und gestaltpsychologische Erkenntnisse, phänomenologisches Denken wie auch konstruktivistische Sichtweisen sind ihm nicht fremd.
[5] Vgl Buber, Martin 1965: Von der Verseelung der Welt. In: ders. Nachlese. Heidelberg: Lambert Schneider S. 146-157
[6] Dieser Bewusstseinsprozess ist begrenzt, da wir uns nach Luhmann immer in einem Möglichkeitsraum bewegen: wenn wir etwas beobachten (und das heißt bezeichnen und unterscheiden), greifen wir Möglichkeiten heraus, es könnte auch anders sein. Wir könnten auch anders unterscheiden, wir könnten auch anderes anders bezeichnen. Es gibt ein Mehr als das, was ich beobachten kann, um es zu unterscheiden. Die Begrenzung der Möglichkeiten liegt in der Begrenztheit des Beobachters oder der Beobachterin.
[7] Vgl. Kulturmodell Beate Willauer