Das Andere in Levinas Denken
Hier ein Ausschnitt aus meinem Artikel „Ich kenne den Weg nicht. Nicht-Wissen und Nicht-Können – Radikalhumanistisches zu Haltung“ Erschienen in: Muth Cornelia (Hg.) (2014): Ein Wegweise zur dialogischen Haltung. S. 93-112. ibidem Stuttgart
Für Buber war es einst eine erschütternde Erkenntnis, die zum dialogischen Prinzip geführt hat, als er versunken in ein ekstatisches Erlebnis, nicht mehr offen war für eine Begegnung mit einem jungen Mann, der ihn in existentieller Not aufsuchte. Was Buber sich vorwarf: er habe die Frage nicht erraten, die dieser Mann nicht stellte, er sei nicht mit ganzer Seele dabei gewesen (vgl. Buber in Schilpp/Friedmann 1963). Für Levinas waren es die Jahre in Kriegsgefangenschaft und das „Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen durch die Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus“ (Levinas 1998, Widmung) die ihn antrieben über die Frage nachzudenken, wie das Menschliche nach dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes noch zu denken und zu tun ist. Eine der Antworten auf die Frage nach der Irritation, die Levinas gibt, werde ich hier jetzt zitieren. Es ist ein steiler Einstieg in levinassches Denken und Schreiben, vielleicht eine Zumutung. Manches daraus wird sich im weiteren Text erschließen, erahnen lassen, manches vielleicht nicht. Ich lade ein, die Sprache, die Worte, Fragmente daraus auf sich wirken zu lassen:
„Die menschliche Nacktheit fragt mich an – sie stellt das Ich, das ich bin, in Frage – und sie fragt mich an in ihrer schutzlosen und wehrlosen Schwäche als Nacktheit. Aber sie frage mich ebenso an mit befremdlicher Autorität, gebieterisch und ohne Waffen, Wort Gottes und Wort im Antlitz des Menschen. Antlitz das schon Sprache ist, den artikulierten Worten zuvor, ursprüngliche Sprache des menschlichen Antlitzes, bevor es sich eine bestimmte Haltung gibt – oder auferlegt – , hinter den Eigennamen, den Titeln und dem, was allgemein zählt“ (Levinas 2008, 9. Herv. i. O.).
Levinas Sprache ist existentiell. In seiner Sprache findet sich etwas von erfahrenem Leid, Hunger, Kälte, Frost, Demütigung, Angst ums Überleben, Reduktion auf das Sein, ein Sein ohne Seiendes, das Unpersönliche schlechthin, ein Sein, in dem das Persönliche verschwunden ist, in dem der Schrecken des Nichts herrscht (Levinas 2008, 273). Krieg ist die Metapher, in dessen Gesicht das Sein die Totalität ist. Wie kann das Menschliche, das Person-Sein, das Subjekt-Sein noch gedacht werden nach Auschwitz? Vor diesem Hintergrund und mit diesen Fragen schreibt Levinas in den 60er Jahren sein erstes Hauptwerk „Totalität und Unendlichkeit“. Er beginnt damit eine Dekonstruktion des griechisch-abendländischen Subjektbegriffes. Er kehrt ihn um. Nicht um das Ich, das freie, autonome und intentionale, dreht sich die Welt, sondern dieses Ich, dieses Subjekt ist dem Anderen, der ihn anruft, zur Antwort verpflichtet, weil es autonom und frei ist. Weil es antworten kann und weil, einzigartig wie es ist, an seiner Stelle in dieser bestimmten Situation des Angesprochen-Seins kein anderer antworten kann (vgl. Levinas 2007, 224). Levinas Fragen und seine Antworten legen eine Spur hin zur Beidheit von Wissen und Nicht-Wissen im Mich-Halten-in-Haltung und Mich-Verlieren-in-Haltung.
Der Perspektivwechsel ist entscheidend. Levinas schaut vom Anderen her, der mir fremd ist und fremd bleibt, der mir begegnet, der mich anspricht. Levinas Phänomenologie der Beziehung zum Anderen ist Ansprache und Antwort. Nicht das Subjekt spricht an, nicht „ich spreche“ sondern „ich antworte“, es ist ein „mich“. Das französische „me voici – hier bin ich“ zeigt es auch grammatikalisch. Ich bin immer schon eine Angesprochene. Darin liegt ein radikal anarchistischer Gedanke.